Gravitation und Schwere

In der Geodäsie unterscheidet man die Begriffe Gravitation und Schwere. Gravitation bezeichnet die reine Massenanziehung, so wie sie durch das Newtonsche Gravitationsgesetz beschrieben wird, während Schwere die Summe darstellt aus Gravitation und dem durch die Rotation der Erde verursachten Beitrag der Zentrifugalbeschleunigung bzw. des Zentrifugalpotentials. Die Zentrifugalbeschleunigung ist nur ca. 1/300 von „g"; sie ist von der Rotationsachse weggerichtet, maximal am Äquator, null an den Polen und an jedem Ort praktisch eine Konstante. Nur durch den sehr kleinen Effekt von Polbewegung und Tageslängenschwankung entsteht eine minimale Zeitabhängigkeit. Der dominante Beitrag der Gravitation ist die Anziehung des annähernd kugelförmigen Erdkörpers, die bekannten „9.8 m/s2". Die Auswirkung der Erdabplattung (≈ 21 km) auf die Schwere ist bereits zwei Größenordnungen kleiner; alle Massen- bzw. Dichtevariationen an der Erdoberfläche, insbesondere die Topographie, und im Erdinnern widerspiegeln sich als räumliche Variationen der Gravitationsbeschleunigung in einem Größenordnungsbereich von unter 10-5 g. Die statische Struktur des Gravitationsfelds der Erde wird überlagert von den wesentlich kleineren zeitlichen Variationen, die ihre Ursachen haben in den Gezeiten von Sonne, Mond und Planeten, den wandernden Atmosphärenmassen, den zeitlichen Veränderungen der Massenanziehung von Ozeanen, Grundwasser und Eisschilden, den durch diese Phänomene verursachten Auflasteffekten und in Massenverlagerungen im Inneren des Erdkörpers. Abbildung 1 gibt eine Zusammenstellung der Beiträge und deren Größenordnung.

Abbildung 1: Größenordnung der Beiträge zur messbaren Schwere am Beispiel einer absoluten Schweremessung in München

 

Der Vektor der Schwerebeschleunigung setzt sich also zusammen aus der Summe aus Gravitations- und Zentrifugalbeschleunigung:

. (1)

Analog ergibt sich das Schwerepotential als Summe von Gravitations- und Zentrifugalpotential:

W = V + Z, (2)

wobei gilt:
. (3)

 

Es ist für viele Überlegungen vernünftig, das Schwerepotential oder Potentialdifferenzen als Ausgangsgröße zu wählen. Potentialdifferenzen entsprechen Höhendifferenzen und sind ein Maß für die Wirkung der Schwerkraft. Flächen konstanten Potentials, d.h. Niveau- oder

Äquipotentialflächen, definieren in jedem Raumpunkt die Horizontale. Jede Niveaufläche des Erdschwerefelds ist glatt, eindeutig, in sich geschlossen, im Außenraum konvex und unendlich oft differenzierbar. Die Schwerevektoren stehen in jedem Raumpunkt senkrecht auf den Niveauflächen; sie sind Tangentenvektoren an die Lotlinien. Die Niveauflächen erscheinen in erster Näherung kugelförmig und die Schwerevektoren zeigen in erster Näherung zum Erdmittelpunkt. Die Niveaufläche auf mittlerem Meeresniveau heißt Geoid. Die mathematische Definition lautet sehr einfach:

konstant. (4)

Das Geoid repräsentiert eine hypothetische Ozeanoberfläche in perfektem Ruhezustand. Es entspricht gleichsam einer erdumspannenden perfekten Wasserwaage. Wie das „mittlere Meeresniveau" zu definieren ist und welche Massenanteile, außer denen der festen Erde und der Ozeane, dem Geoid zuzurechnen sind, dies sind subtile Themen, die mit wachsender Messgenauigkeit an Bedeutung gewinnen. Theoretisch ist das Geoid die ideale Bezugsfläche aller topographischen Höhen, der Topographie unserer Landflächen mit Gebirgszügen, die bis zu 8000 m hoch sind, und der Ozeantopographie der Zirkulationssysteme der Weltmeere mit maximalen Erhebungen von 1 bis 2 Metern. Die global konsistente Bestimmung und Realisierung der Geoidfläche ist eine der großen Herausforderungen der modernen Geodäsie.