Gezeitenmodelle
Ein wichtiger, sehr interessanter, aber auch komplexer Aspekt der Geopotentialmodellierung ist das Thema Gezeiten. Die Anziehung von Sonne, Mond und Planeten auf eine beliebige Testmasse (Satellit, Gravimeter) relativ zum Massenzentrum der Erde nennt man Gezeiten. Da die Bewegung und Masse von Sonne, Mond und Planeten sehr genau bekannt sind, kann man die theoretische Gezeiten als Testfunktion auf unseren Planeten nutzen, um die Wirkung auf das Rotationsverhalten und auf die Massenverteilung der Komponenten des Erdsystems zu untersuchen. Es wird dabei der direkte Anziehungsbeitrag, der sich sehr genau berechnen lässt und der indirekte Beitrag unterschieden, der durch die Gezeitenverformung des Erdkörpers, der Ozeanoberfläche und – als viel kleinerer Beitrag – der Atmosphärenmassen zustande kommt. Die Gezeiten sind ein periodischer Vorgang mit den typischen durch die tägliche Rotation der Erde verursachten Halbtages- und Tagesperioden und den durch Sonnen- und Mondbahn zusätzlich auftretenden 14-Tages und Halbjahresperioden. Sie enthalten aber auch einen konstanten, breitenabhängigen Anteil, der sich nicht „herausmitteln" lässt. Dieser Anteil wird als permanente Tide bezeichnet und er resultiert in einer konstanten Aufwölbung der festen Erde und der Ozeanoberfläche. Bei der Erstellung eines Schwerefeldmodells resultieren hieraus drei mögliche Vorstellungen. Grundsätzlich bezieht sich ein Schwerefeldmodell nur auf die feste Erde, d.h. es ist vom Gezeitenanteil befreit. Beim sogenannten „gemittelten Gezeitensystem" (mean tide) enthält das Schwerefeldmodell zusätzlich den permanenten Gezeitenanteil. Dies ist ein für ozeanographische Fragestellungen vernünftiger Ansatz. Er impliziert, dass bei der Gezeitenreduktion der in die Schwerefeldmodellierung eingehenden Beobachtungen der permanente Gezeitenanteil zurücksubstituiert werden muss.
Beim „Nullgezeitensystem" (zero tide) wird bei der Reduktion der Beobachtungen der ganze Beitrag der direkten und der Ozeangezeiten berücksichtigt. Es entsteht eine Schwerefelddarstellung ohne Sonne, Mond und Planeten. Die publizierten Schwerefeldmodelle entsprechen normalerweise diesem „Nullgezeitensystem". Das „gezeitenfreie System" (tide free) versucht zusätzlich zur Elimination von direkten und Ozeangezeiten auch die permanente Gezeitendeformation der elastischen Erde zu berücksichtigen. Dies ist jedoch nur bedingt möglich, da die Elastizitätskonstanten (Lovezahlen) für eine permanente Deformation nicht bekannt sind. Mit dem „gezeitenfreien System" würde man ein Schwerefeldmodell ohne jede Einwirkung von Sonne, Mond und Planeten schaffen. Vgl. (Hughes & Bingham, 2006). In Anbetracht der zunehmend hohen Genauigkeitsansprüche müssen zukünftig vollkommen analoge Modellüberlegungen zur Rolle der permanenten Wirkung der Atmosphäre angestellt werden.
Als einführende Literatur sei auf folgende Schriften verwiesen:
Torge, W. (2003) Geodäsie, 2. Auflage, de Gruyter, Berlin [hervorragende Einführung in die Erdmessung; es existiert im gleichen Verlag eine englische Ausgabe]
Hofmann-Wellenhof, B., H. Moritz (2005) Physical Geodesy, Springer, New York [Neuauflage des Klassikers „Physical Geodesy" von Moritz und Heiskanen; sozusagen die Bibel jedes Geodäten]
Hughes, C.W., R.J. Bingham (2006) An Oceanographer's Guide to GOCE and the Geoid, Ocean Science Discussions, 3, 1543-1568 [sehr gute Einführung in die Geoidmodellierung für Geodäten und Geowissenschaftler; dieser Aufsatz ist in großen Teilen eine hervorragende Alternative zu dem vorliegenden Tutorial]
Sneeuw, N. (2000) A Semi-Analytical Approach to Gravity Analysis from Satellite Observations, Deutsche Geodätische Kommission, C-527, München [eine systematische Einführung in die Schwerefeldbestimmung mit den Messsystemen moderner Satellitengravimetrie]
ESA (2006) GOCE Level 2 Data Handbook [alle Grundlagen mit Formeln zusammengefasst]